Wie fühlt man sich in einem Land, ohne Sprachkenntnisse, ohne Freunde? Anne-Katrin Speck hat diese Erfahrung gemacht. Drei Monate verbrachte sie in Ettlingens russischer Partnerstadt Gatschina in einer Gastfamilie und arbeitete in dem Rehabilitationszentrum für Kinder „Darina“. Sie sitzt am Esstisch im Wohnzimmer, vor sich aufgebaut fünf bunte „Matroschkas“, die berühmten russischen Holzpüppchen: Klappt man die große „Matrosckka“ auf, verbergen sich in deren Bauch weitere, kleinere Püppchen. Auf dem Tisch dampft in einer gusseisernen Kanne grüner Tee: „Wir trinken Tee, nicht Kaffee, genau wie in Gatschina“, schlägt das Mädchen mit den schwarzen, kurzen Haaren vor.
Auf einem Teller hat sie Gebäck angerichtet, das nach Lebkuchen schmeckt: „Die Russen nehmen das zum Tee in den Mund, statt Zucker“, erzählt sie. „Sie lieben alles, was süß ist.“ Die Holzfiguren, die auf dem Tisch stehen, sind ein Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter: „Sie sind schon sehr kitschig“, sagt sie fast entschuldigend. Sehr gerne hat Anne- Katrin die Matroschkas trotzdem. Mit ihrem Verhältnis zu Russland verhält es sich ähnlich wie mit dem zu den Matroschkas: Russland hat für sie zwei Seiten, schöne und weniger schöne und beide Seiten hat sie in derzeit von März bis Ende Mai kennengelernt. Ansatzweise zumindest, denn mit Russland sei es eben wie mit den Matroschkas, es enthüllt seine Geheimnisse nicht auf den ersten Blick, sondern nur nach und nach.
„Russen sind grenzenlos großzügig und gastfreundlich“, erzählt Anne-Katrin. „Sie verausgaben sich, geben das Letzte, feiern gut, gerne und viel.“ Das macht sich sogar in der Organisation der öffentlichen Feiertage bemerkbar. Was in Deutschland unvorstellbar ist, ist in Russland gängig: Wenn ein Feiertag auf den Sonntag fällt, wird der freie Tag am Montag darauf angehängt.
Dann gebe es da noch die weniger schönen Seiten, die Kriminalität und die Korruption. Als „Rückzug ins Private“ charakterisiert sie, die angehende Staatswissenschaftlerin, die Situation vor Ort scharfsinnig: „Das Putin- Regime hat es mit sich gebracht, dass die Russen sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen.“ Der Zusammenhalt untereinander sei dafür umso stärker. „Den Freundschafts- und Verwandtschaftsbegriff fassen die Russen sehr weit“, erzählt sie, „er gilt auch für entfernte Verwandte“.
Zwei Kilo Gewicht habe sie in Gatschina zugelegt: Es könnte an den in Fett ausgebackenen Pfannkuchen, den leckeren Blinis, der süßen Buchweizengrütze oder den Bratkartoffeln zum Frühstück gelegen haben.
„Obst und Gemüse sind sehr teuer“, erzählt die Vegetarierin Anne-Katrin. Einmal habe ihre Gastmutter ihr Auberginen und Zucchini gekauft: „Dafür hat sie Unsummen ausgegeben, obwohl sie wenig Geld hat.“ Zurückkehren will Anne-Katrin Speck auf jeden Fall, denn sie hat Gatschina ins Herz geschlossen. Außerdem spricht sie mittlerweile recht flüssig russisch. „Sprachbegabung“, winkt sie bescheiden ab. Zunächst aber erwartet sie Gegenbesuch: „Die entstandenen Freundschaften bleiben fürs Leben“, ist sie überzeugt.
BNN, 30.Mai 2008, Dorothea Gaipel