„Die Deutschen schauen noch zu stark nach Westen“

Viktor Schutilow von der russisch-deutschen Gesellschaft in Gatschina über Partnerstädte und Leben in Rußland

Ettlingen. „Von ganzem Herzen bin ich ver­liebt in diese Stadt.“ Nette Bekannte lassen ihn immer wieder den langen Weg nach Ett­lingen auf sich nehmen: Viktor Schutilow, Vorsitzender der russisch-deutschen Gesell­schaft in Ettlingens Partnergemeinde Gat­schina, ist bereits zum fünften Mal an die Alb gekommen.

„Eine solche Partnerschaft öffnet Wege zum Frieden in Europa und zum gegenseitigen Verständnis der Menschen“, sagt Viktor Schutilow. Die Bürger Gatschinas zeigten großes Interesse an dieser Freundschaft, doch plagten sie Nöte ganz anderer Art: Finanzielle Engpässe hinderten die Russen an einem allzu regen Austausch. Realismus prägt deshalb die Beziehungen zwischen Gatschina und Ettlin­gen. „Die Menschen dort haben in erster Li­nie eine Sorge, nämlich die, sich zu ernähren. Bildung und Kultur sind völlig zweitrangig. Die Perestrojka, der gesellschaftliche Wandel, hat den Lebensstandard nicht unbedingt ver­bessert. Die finanziellen Mittel sind knapper geworden.“

Dies gelte für den Haushalt des Stadtso­wjets (vergleichbar dem Gemeinderat, Anmer­kung der Redaktion) genauso wie für den Geldbeutel der Familien. Hohe Inflationsraten und ein unvorstellbar niedriger Lohn zwän­gen dazu, jeden Rubel mehrmals umzudrehen, bevor man ihn ausgibt. Bei einem Durchschnittsverdienst von ungefähr 20 000 Rubel pro Monat, das entspricht etwa 35 Mark, be­reitet schon der Kauf von Alltagslebensmit­teln wie Butter oder Brot Kopfzerbrechen. In gerademal zwei Jahren sind die Preise um das 2OOfache gestiegen und haben inzwischen fast westliches Niveau erreicht. Hinzu kommt ein Schwarzmarkt, der die Preise für Grundnah­rungsmittel zusätzlich anheizt. „Spekulanten kaufen knappe Lebensmittel auf, um sie dann zu überhöhten Preisen weiterzuverkaufen“, erläutert Schutilow die aus seiner Sicht kri­minellen Strukturen.

„Die Deutschen machen sich von all diesen Schwierigkeiten gar kein Bild“, bedauert er. Sie richten ihren Blick vorrangig gen We­sten. Er ist davon überzeugt, daß Städtepartnerschaften diesen  Zustand langfristig beenden und dann Osteuropa stärker ins Bewußtsein der Menschen rücken. Viel gravierender als die wirtschaftliche Notlage stuft der russische Gast die aus ihr entspringende Kriminalität ein: „Die neue Devise, mit allen Mitteln an Geld zu kommen, öffnet Verbrechern Tür und Tor.“ Vor allem die jungen Leute, die in dieser neuorien­tierten Gesellschaft aufwachsen, sieht er von einem massiven Moralverlust bedroht. Die Loslösung vom kommunistischen System habe viel Halt- und Orientierungslosigkeit mit sich gebracht.

Zu Revolutionen und Reformen in seinem Land hat Schutilow seine eigenen Gedanken. Friedliche Revolution nach ostdeutschem Vor­bild findet er gut, aber Veränderungen in Rußland vollzögen sich anders. „Die Russen erdulden einen Zustand sehr lange, dann rea­gieren sie mit Emotionen“, beschreibt er die Mentalität. Gefühle dominierten über Ratio­nalität; an die Vernunft einer großen Men­schenmenge – und zudem einer russischen – könne er nicht glauben. Demonstrationen sei­en nicht die Stärke der Russen, „da fließt leicht Blut“. Die Russen gingen unangeneh­men Dingen gerne aus dem Weg. Als Flucht vor Konflikten sieht er den großen russischen Auswandererstrom der letzten Jahre. „Ich verstehe diese Menschen nicht, die ihre Hei­mat verlassen und sich dem Aufbau eines neuen Rußlands entziehen“, übt er leise Kritik.

Eine schwache Hoffung für eine bessere Zukunft seines Vaterlandes setzt er in die kommenden freien Parlamentswahlen. Erst­mals werden mehrere Parteien gegeneinander antreten. (Datum steht noch nicht fest. Anm. d. Red.) Doch auch in Rußland weiß man längst um Wahllügen und leere Versprechen. Er ist enttäuscht über Boris Jelzin, den er noch vor den letzten Wahlen für den einzig vertrauenswürdigen Politiker hielt. „Aber auch Jelzin ist ein ehemaliger Kommunist. Die Leute in der jetzigen Regierung denken auch zuerst an die eigenen Interessen, wo doch eine Demokratie dem ganzen Volk die­nen soll.“

Durch die intensive Lektüre „spezieller Li­teratur“ sowie durch die Komposition von Liedern schaffte Schutilow sich früh eine ei­gene Welt, die von kommunistischer Seite un­angetastet blieb. Die junge Partnerschaft zwi­schen Gatschina und Ettlingen kam ihm so gerade recht und gelegen. „Die Kontakte zur deutsch-russischen Gesellschaft mit Dr. Dier­kesmann an der Spitze sind zufriedenstel­lend.“ Er fügt an, daß er mehr direkte Ver­bindungen zwischen beiden Partnerschaftsko­mitees wünscht; zu häufig nehme die Ettlin­ger Seite den Weg über den Stadtsowjet, über die Administration also. Dabei sei doch die „Volksdiplomatie“ so wichtig, die Freund­schaft zwischen Familien.

Begrüßenswert findet Schutilow die infra­strukturelle Initiative des Ettlinger Stadtra­tes, in Gatschina eine Milchküche für Neuge­borene und Kleinkinder einzurichten. Diese Hilfe habe wegen der schlechten Ernährungs­lage Symbolcharakter. „Aber“, schränkt er ein, „die Küche ist nur dann sinnvoll, wenn die Milch billig gekauft werden kann. Sonst kann sie sich keiner leisten.“ Handlungsbereit geht Schutilow an die Zukunft Rußlands her­an: „Wer in einem sauberen Raum leben will, der muß einfach einen Besen nehmen und fe­gen.“                                           

BNN, Nicola Günzler

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