Kultureller Austausch zwischen Ettlingen und Gatschina hängt mit an sozialen Problemen

Einseitiger Export von einem neuen Luxusgut

Ettlingen (eko). Virtuos flitzen die Finger Anatolij Mescherjakows über das Riff der Ba­lalaika. Immer wieder lächelt der Musiker des Sankt Petersburger Staatskonzertorchesters in Richtung Alexander Korbakow, dem Spe­zialisten für Rhythmusinstrumente und Bajansolisten. In der Ettlinger Stadthalle er­klingt russische Folklore und den Musikern macht es offensichtlich Spaß. Sie haben rund 400 Besucher in das historische Gebäude ge­lockt, für die sie nun zusammen mit Sergej Petrov am Knopfakkordeon oder Bajan und den Gesangssolisten Olga Wasiljewa, Marina But und Vladimir Mayer musizieren, was ihre Instrumente hergeben.

Selbstverständlich ist das nicht. Abgesehen von Mayer, der trotz beeindruckender Tenor­stimme normalerweise Bauingenieur ist, ste­hen bei dem Konzert in der Ettlinger Stadt­halle Profis mit akademischer Ausbildung auf der Bühne. Früher als Kultur in Rußland noch kein Luxusgut war, spielten sie im Pe­tersburger Kulturpalast und andeswo vor 4 000 und mehr Gästen. Das haben sie sicher nicht schlechter gemacht als am Montagabend in Ettlingen, aber möglicherweise ge­lassener, weniger euphorisch.

Es ist „kompliziert“ geworden für Künstler in Rußland. Wo früher das Publikum Schlan­ge stand, wie beispielsweise in der Akademie der Künste, kommen heute fünf bis sechs Leute täglich zu guten Ausstellungen, berich­tet Vladimir Myslitski. Der Dozent für Litho­grafie an der Petersburger Einrichtung zeigte seine Gemälde vergangenes Jahr im Ettlinger Schloß. „Eine wunderbar organisierte Aus­stellung“ für den in seiner Heimat renom­mierten Maler. „Wenn man so etwas mal er­lebt hat, will man ein zweites Mal kommen.“

Gastfreundschaft und optimale Ausstel­lungsbedingungen sind für Myslitski indes nur ein Grund für die weite Reise in die Part­nerstadt von Gatschina. Der Maler „lebt von den neuen Eindrücken und frischen Impres­sionen“, die ihm die Besuche in Ettlingen bringen. Konkret niedergeschlagen hat sich dies bereits in einer Serie, die er Ettlinger Portraits nennt.

Daß sich Ähnliches auch bei einem Kultur­austausch in umgekehrter Richtung zeigen könnte, steht außer Frage. Nur während hier­zulande die Leute ihre Neugierde auf das, was da lange Zeit hinter dem eisernen Vor­hang verborgen gedieh, auf unterschiedlich­ster Ebene befriedigen können, hinterlassen Ettlinger Maler, Musiker und Volkskünstler in Gatschina nur selten Spuren. Eine Tour in Richtung Rußland schaffte bislang lediglich die Jazzband „Crescendo“ der Musikschule. Der Versuch des Musikvereins „Lyra“, es ihr gleichzutun, scheiterte Anfang 1993 zum Är­ger der Mitglieder an Mißverständnissen bei der Organisation.

Desinteresse dort, Bequemlichkeit hier, so hat es den Anschein. Die Musiker um Mescherjakow, die am Freitag, 3. Juni, um 20 Uhr im Schulzentrum von Langensteinbach einen weiteren Auftritt haben, winken ab. Ih­re Spielbegeisterung hier und der einseitig wirkende Kulturaustausch mit Gatschina ha­ben für sie ein und denselben banalen Grund: es fehlt an Geld. Wenn Russen heute zum Bei­spiel die Bilder in der Eremitage von Peters­burg anschauen wollen, kostet sie das 2 000 Rubel oder zwei Mark, eine enorme Summe gemessen an 40 bis 50 Mark Monatsein­kommen.

„In der Krise verlieren die Leute das Inter­esse an der eigenen Geschichte und Kultur“ nennt Mescherjakow einen weiteren Grund für die prekäre Situation von Künstlern in Rußland. „Sie flüchten zu Neuem“, aber mög­licherweise nicht zu dem, was da aus Partner­städten wie Ettlingen kommen könnte. Denn während das Gros der Russen sich Kultur schlicht nicht mehr leisten kann, investieren reiche Petersburger, die dafür nie etwas übrig hatten, in Größen der Rockmusik und andere populäre Erscheinungen der lange totge­schwiegenen Westwelt, erläutern die Musiker.

Schlechte Bedingungen also für Ettlinger Kulturexport, den es schließlich auch nicht für umsonst gibt. Die Musiker der „Lyra“ hätten beispielsweise allein für den Flug je­weils rund 700 Mark bezahlt, berichtet Vor­stand Steffen Neumeister. Umgekehrt ist dies zwar auch nicht billiger, die Konzerte und Ausstellungen decken aber immerhin die Un­kosten.

Geld, versichern die Künstler aus Peters­burg und Gatschina, ist aber weder der einzi­ge noch der erste Grund für ihren Kulturaus­tausch mit Ettlingen. Dies flösse schließlich auch reichlich, wenn sie zu Hause für Touri­sten spielten. Wesentlich wichtiger, so versi­chern sie einhellig, ist die moralische Unter­stützung hier. Und die stimmte bei dem Auf­tritt in der Stadthalle, wo nicht einfach nur interessierte Bürger, sondern auch all jene sa­ßen, die laut Kulturamtsleiter Robert Deter­mann die Partnerschaft mit Gatschina för­dern: Mitglieder der Deutsch-Russischen Ge­sellschaft, der Musikschule und Privatleute. Inzwischen gebe es unwahrscheinlich viele Kontakte in die ehemalige Zarenresidenz. Sie organisieren Kulturaustausch, selbst wenn es derzeit keine konkreten Projekte für dort gibt.                                                   

BNN 25.05.1994 , Edith Kopf

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