Verwundete waren die ersten Ettlinger in Gatschina

Ettlingen. Kreise schließen sich immer wieder – selbst wenn es lange dauert, ehe sich die Linien verbinden lassen. Das gilt auch für Ettlinger die vor über 5 Jahrzehnten oh im Osten Europas als Soldaten um herziehen mussten–Städte und Landschaften nur kurz kennenlernten, viele Namen aber in Erinnerung behalten haben. Besonders von jenen Orten, in denen sie unverhofft einen Landsmann getroffen haben. Das gab Zuversicht und Mut in schwierigsten Situationen. Es waren Begegnungen in Zeiten, die nicht vergessen werden können – Erinnerungen, die immer wieder wach werden. Dann nämlich, wenn sie Städtenamen hören, die ihre Soldatenzeiten nachhaltig prägten. Gemeint sind damit die, in denen sie irgendwo im Lazarett verlassen auf einer Pritsche lagen, von einem Tag auf den anderen hoffend.

„Lazarettplätze wurden zu Treffpunkten“, weiß der Ettlinger Richard Rapp zu berichten und erinnert sich an einen Julitag 1944 auf dem Truppenverbandsplatz in Urizk unweit von Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, gelegen. Seinen Ettlinger Landsmann, den Sanitätsgefreiten Albert Bissinger, traf er und der erkannte sofort die Schwere der Verletzung: Rapp, Sattler- und Tapeziermeister, hatte einen Lungenschuß. Bissinger hat den Feldwebel verbunden, schob ihn in einen überfüllten Sanitätswagen – denn er wußte, Richard Rapp mußte sofort operiert werden. Und das geschah dann auch, im feldnahen Lazarett in Gatschina. „Umgehende Hilfe war wichtig“, so heute Albert Bissinger, der, im dritten Semester Theologie studierend, eingezogen wurde und zur Sanitätsersatzabteilung in Ulm kam. „Albert Bissinger hat mir das Leben gerettet“, blickt Rapp zurück.

Bissinger mußte umherziehen, denn bei den schweren Kämpfen um Leningrad waren die Sanitäter gefordert. Im September 1942, bei Tossno im vorderen Graben liegend, wurde er durch Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet, wurde geborgen und kam nach Krasnogwardeisk, wie Ettlingens Partnerstadt damals hieß, ins Lazarett. Daß die Welt klein ist, bewies sich für den Verletzten. Hier traf ihn überraschend Karl-Alexander Schwer, ebenfalls Theologiestudent, den Bissinger in Freiburg kennengelernt hatte. Er sorgte für die fachgerechte ärztliche Behandlung. Als Sanitäter hatte Schwer, bekannt geworden als Präsident des Deutschen Caritasverbandes, schon „Beziehungen“ und bemühte sich darum, daß Albert Bissinger, der hohes Wundfieber hatte, operiert und nach Litauen verlegt wurde.

Über Königsberg, „dann erstmals in einem richtigen Lazarettwagen“, kam Bissinger nach Carlsfeld/Halle. Im Lazarett ist er zum Sanitätsunteroffizier befördert worden. Auch das Eiserne Kreuz Erster Klasse wurde ihm verliehen.

So dekoriert ging es wieder zum Einsatz. Vom Kubanbrückenkopf nach Italien, wo er 1944 im Vatikan an einer Audienz von Papst Pius XII. teilnehmen konnte, der zuvor Nuntius in Deutschland und 1929 beim Katholikentag in Freiburg als Abgesandter des Heiligen Vaters war. Schöner als jeder Orden war für den Theologiestudenten in der Sanitätsuniform das kurze Gespräch mit dem Papst, der „von Freiburg, der schönen Stadt im Schwarzwald, gesprochen und noch einige persönliche Worte angefügt hat“.

Die Soldaten-Odyssee endete schließlich in Frankreich. Bissinger geriet in amerikanische Gefangenschaft, kam nach Amerika, wurde in einem Generalhospital zum deutschen Sprecher gewählt, „es war die erste demokratische Wahl, die ich erlebt habe“. Im April 1946 ging’s dann über den großen Teich nach England in britische Gefangenschaft. Zunächst in ein Lazarettlager bei Liverpool und dann in ein Theologencamp, wo Bissinger, weil die Welt ja klein ist, seinen späteren Mitbruder, den viele Jahre in Ettlingen als Kaplan und dann als Gymnasialprofessor tätigen Hans Eichhorn getroffen hat.

Immer wieder mußte er an jene Soldaten aus der Heimat denken, die er an den verschiedenen Frontabschnitten als Verletzte getroffen hatte. Im Februar 1947 schließlich konnte Albert Bissinger das Camp in Colchester verlassen, kehrte in die Heimat zurück, setzte im Mai 1947 sein Theologiestudium in Freiburg fort und ist im Juli 1950 zum Priester geweiht worden und war bis zur Pensionierung zuletzt erzbischöflicher Kanzleidirektor.

Daß Krasnogwardeisk als Gatschina einmal Partnerstadt ihrer Heimatstadt Ettlingen werden würde, daran war in den Kriegswirren nicht zu denken – unvorstellbar für Albert Bissinger und Richard Rapp, die in einer der dortigen Lazarettbaracken auf Genesung hofften.

BNN, Martin Karg v.16.08.1995