Wo die Bedeutung des „Vater unser“ noch hautnah zu spüren ist

Szenen aus Ettlingens russischer Partnerstadt Gatschina/ Wenn die Menschen vor dem Brotgeschäft Schlange stehen

Anekdoten tragen manchmal mehr zum Verstehen von Menschen und Leben bei als lange wissenschaftliche Abhandlungen. Erleb­nisse und Beobachtungen eines Ettlinger Bür­gers, dieser Tage in der russischen Partner­stadt Gatschina notiert.

„Beine von Bush“ – vor einiger Zeit gab es in den russischen Lebensmittelgeschäften Hähnchenschlegel amerikanischer Erzeugung. Im Volksmund nannte man diese köstlichen und fleischigen „Knöchelchen“ allgemein nach dem amerikanischen Präsidenten „Hähnchen von Bush“. Begehrt und preis­wert, für einige Rubel erhältlich: Kurz für die russischen Haushalte eine Delikatesse. Neuer­dings sind diese Hähnchen aus den Auslagen verschwunden, statt dessen kommen Schlegel aus der EG, dänischer oder deutscher Her­kunft, in den russischen Geschäften zum Ver­kauf. Das Gegenteil von saftigem Hähnchen­fleisch: Auch stundenlanges Kochen machen die „Gummiadler“ nicht weicher. Sie bleiben so zäh wie Leder, so groß die Schlegel auch aussehen. 1 000 bis 3 000 Rubel, etwa ein bis vier Mark, pro Stück. Wer versteht da nicht die Hausfrau aus Gatschina, die schimpft: „Hierr in Rußland gibt es nichts, und die aus dem Westen schicken uns das, was sie selbst nicht brauchen können.“

Asche auf das Haupt – Erschüttert muß der Betrachter beim Anblick von „Pogrowskij-Sobor“, der größten Kirche in Gatschina sein. Schon rein äußerlich macht der Backsteinbau mit seinen blauen Zwiebeltürmen einen heruntergekommen Eindruck. Innen übertrifft das Gotteshaus alles an negativen Erwartun­gen. Die dreischiffige Kathedrale, in der Za­renzeit Teil einer bedeutenden Klosteranlage, geweiht der Schutzpatronin Maria, ist eine fürchterliche Mischung aus Ruine und Bau­stelle. Es sieht nach einem Sturmschaden aus. Unvorstellbar die Kosten, um das Gebäude wieder einigermaßen herzustellen und seiner alten Verwendung zuzuführen. Jeder ehemali­ge sowjetische Kommunist müßte beim An­blick dieses steinernen Heiligtums vor Scham gerötet in den Boden sinken.

Bis wieder im Chor der Kirche die Ikono­stasen stehen und das heilige Abendmahl ge­feiert wird, gehen wohl noch Jahre ins Land. Aber unwiederbringlich sind jene Ikonen, die längst geraubt oder zerstört worden sind. Spätestens die Tatsache, daß dieses Haus Gottes als Lagerschuppen jahrzehntelang diente – andere Kirchen in Gatschina fanden als Firmengebäude der Rüstungsindustrie oder als Turnsaal Verwendung – müßten diese im Totalitarismus verhafteten Kommunisten ihrer Ideologie endgültig abschwören und auf ihr Haupt Asche streuen.

Der rote Hahn – Es ist vielleicht 18 Uhr. Polare Nacht hat Gatschina längst im Griff. Es ist Ende November 1993, klirrend kalt. 15 bis 20 Grad unter Null, sagt die russische Be­gleiterin. Die Hauptdurchgangsstraße von Gatschina, die Avenue Zar Paul I., vor weni­gen Monaten lautete der Name „Straße der Großen Oktoberrevolution“, ist spiegelglatt. Schneereste haben sich zu gefährlichen Riefen entwickelt. Vorsicht ist mit dem Auto gebo­ten. Ein Feuerwehrauto fährt mit lauter, jau­lender Fanfare nach Süden, die gleiche Rich­tung. In Höhe des Schloßparks biegt das Ret­tungsfahrzeug in Richtung Milizgebäude, ehe­maligen Parteipalast und „Kulturcafe“ ab. Unweit davon schießen meterhoch die Flam­men empor. Das Haus ist verloren. Da hilft auch „Väterchen Frost“ den Wehrleuten nicht. Es geht nur noch darum, das Übergrei­fen des Feuers auf die umliegenden Häuser zu verhindern.

Am nächsten Morgen sind die verheerenden Auswirkungen des Brandes klar. Es stinkt Hunderte von Metern weit nach verbranntem Holz und verschmortem Kunststoff. Aber es riecht nicht allein danach, es „riecht“ nach Brandstiftung. Gerüchte kursieren unter den Passanten: War nicht in einem Stockwerk des abgebrannten Hauses die Abteilung zur Be­kämpfung von Wirtschaftskriminalität unter­gebracht? In einer Zeit in der das Leben in Rußland von Verbrechen aller Art, Schutzgelderpressung – das amerikanische Wort „Racketeer“ versteht jeder Russe – und von Korruption noch und noch bestimmt ist, keine so unwahrscheinliche Vermutung. Hat jemand versucht, unter in Kaufnahme Men­schenleben auszulöschen mit dem Brandlegen sich zu rächen oder Untersuchungen zu ver­hindern? Spaßig meint eine Russin zu dem er­schütterten deutschen Touristen: „Vielleicht war jemand unvorsichtig, als er mit dem Tauchsieder Wasser heißmachen wollte!“ Das Lächeln über die harmlose Erklärung zerrinnt auf den Lippen, beim Gedanken, was ein Menschenleben wert ist, wenn Kriminelle ver­suchen, „Ihren“ finanziellen Anteil am Leben zu sichern.

„Und gib uns unser täglich Brot“ – Dieser Satz aus dem „Vater unser“ ist in Gatschina noch hautnah spürbar. „Brot des Lebens“ ist nichts abstraktes. Wer „Chleb“, also Brot auf russisch, besitzt, leidet nicht an Hunger, ge­hört nicht zu den Ärmsten der Armen, die noch nicht wissen, ob sie morgen von mehr „als der Hand in den Mund“ leben. Die Brot­preise sind auch in Gatschina Gegenstand täglicher Diskussion. Für die Massen ist dies weit wichtiger als irgendwelche Produkte aus Westeuropa oder Amerika. 107 Rubel steht im Brotgeschäft für ein Laib Kastenschwarzbrot auf einem unscheinbaren Zettel. Für den „Va­luta “-Geldbeutel, das Portemonnaie mit west­licher Währung, ein „Nichts“, für Mark- Be­sitzer gerade 20 Pfennig. Bei einem durch­schnittlichen Monatsgehalt von 40 000 Rubel, was etwas mehr als 35 Mark entspricht, ein horrender Preis, ein Vermögen. Eine Frau schimpft im Brotgeschäft lauthals über den Preis. Sie lobt alte Zeiten, in denen alles viel besser war: „Zu Zeiten Breschnjews haben wir einige Kopeken bezahlt und heute?“ Leid­tragende ist eine Verkäuferin an der Kasse – „wie wenn sie etwas für die staatlichen Brot­preise könnte“. Wahrscheinlich würde die schimpfende Frau endgültig „ausrasten“, wenn jemand ihr erklären wollte, daß auch dieser Preis erheblich subventioniert ist und ein marktgerechter Preis bei über 1 000 Rubel hegt.

Vor dem Geschäft steht eine Schlange mit mindestens 80 bis 100 Menschen. Alle wollen nur eins: Brot. Bei Temperaturen von Minus 16 Grad warten sie geduldig auf die Ausgabe von Brot. Zwei Frauen im Geschäft kümmern sich um den Verkauf. Daneben stehen drei weitere Verkäuferinnen, die sich fröhlich mit­einander unterhalten und Witze erzählen. Warum helfen sie bei der Ausgabe des Brotes – es ist genug für die Wartenden da – nicht mit? Ein wartende alte Frau sagt lakonisch, „sie sind für den Verkauf an der Theke ge­genüber verantwortlich. Niemand interessiert sich für die Produkte – meist westliche Ge­tränke, die zu teuer sind, oder einheimischer Wodka, dessen Qualität in der Zeit des Schwarzmarktes niemand so recht traut. Ha­ben die „klatschenden“ Verkäuferinnen kein Herz mit den in der klirrenden Kälte Warten­den. Weshalb helfen sie nicht ihren Kollegin­nen beim Brotverkauf? Mit solchen Fragen versteht man das russische Leben wahr­scheinlich nicht. Johannes-Christoph Weis