Moskauer Künstlertheater im Ettlinger Schloss

Des Dichters Melodien , Moskauer Künstlertheater

Ein nervenkranker Trunkenbold, ein Sprachrohr religiöser und nationalistischer Kreise, kurzum ein konterrevolutionärer und damit ein schlechter Dichter soll er gewesen sein, der russische Künstler Sergej Jessenin (1895 bis 1925), wenn man in einem sowjetischen Schulbuch von 1932 nachliest. Er war, steht dort, ein Kulake, ein Mittelbauer. Das war damals fast ein Synonym für den Abschaum der Menschheit – und war doch nur ein Wort für eine Gruppe von Menschen, der Stalins Terror gnadenlos nachstellte. 
Sergej Jessenin haben Stalins Schergen nicht auf dem Gewissen. Der Bohemien hat sich 1925 im Leningrader Hotel Angleterre das Leben genommen. In Moskau hat man ihm ein Denkmal gesetzt, erst 1986, versteht sich. 
Und das Moskauer Künstlertheater‘ erinnert jetzt in einer szenischen Montage aus Jessenins Dichtung und aus Dokumenten, Briefen und Erinnerungen von Gorki, Pasternak, Meyerhold, Majakowski und anderen an diese schillernde Figur der russischen Künstlerszene. Boris Stscherbakow spielt unter der Regie von Michail Aparzew den Jessenin, spricht seine Texte, singt seine Lieder, tanzt die wilden Tänze der russischen Bauern und der europäischen Boheme und führt den Zuschauern damit ein russisches Künstlerleben vor Augen: „Meine Lieben, meine Guten“ nennt die Moskauer Schauspielgruppe ihr Bühnenspiel.
Schauspieler und Zuschauer waren in den Rittersaal des Ettlinger Schlosses gekommen. Die Volkshochschule Ettlingen hat das Moskauer Künstlertheater eingeladen. Auf der Bühne spielen außer Stscherbakow Jegor Wyssozki, Michail Winogradow und Stscherbakows Sohn Wassja. Mittlerin zwischen russischen Darstellern und deutschem Publikum war in Ettlingen Klara Stoljarowa. Die Moskauer kamen aus Stuttgart und ziehen weiter nach Tübingen, im Sommer waren sie in West-Berlin zu Gast und letztes Jahr in München.
Was da das Ettlinger Schloß belebte, war mehr als nur ein Hauch von großer Theaterwelt. Stscherbakow sprach eineinhalb Stunden fast pausenlos seine russischen Sprachmelodien. Und das war lebhaftes Theaterspiel auf einem Freiraum zwischen den Stühlen des Publikums. Die Zuschauer, die dem Reden in der fremden Sprache weitgehend nicht folgen konnten, waren dennoch die ganze Zeit über Auge und Ohr für das Leben des Sergej Jessenin. Nachdrücklicher kann sich Stscherbakows präzises Handwerk und seine künstlerische Virtuosität nicht beweisen. Jegor Wyssozki war sein kongenialer Mit-und Gegenspieler. Wyssozki spricht, singt, tanzt, ist ein mitreißender Gitarrist und ein meisterhafter Pianist.
Die Moskauer Gäste machen dem Künstlertheater. dem sie angehören, alle Ehre. Das Moskauer Künstlerheater hat 1898 der legendäre Stanislavski als Avantgarde-Bühne gegründet und hat sie dem Naturalismus verpflichtet. Später, so schreibt „Theater heute“ war das Moskauer Künstlertheater zum akademischen Musentempel erstarrt. Doch seit sich in Gorbatschows Sowjetunion allenthalben neues Leben regt, werden auch Theatermumien höchst lebendig. Das Ettlinger Gastspiel bewies es auf das beste. Nur eines noch am Ende: ein Programmheft hat gefehlt. Bei einem Stück in fremder Sprache aus nicht vertrauter Szenerie hätten ein paar gedruckte Informationen sehr viel geholfen.

BNN, Eva Komann

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