Was im Gedächtnis bleibt – Ausstellung in Moskau

Erinnerungen eines Ettlingers bei Moskauausstellung

Rinden wurden Wörterbuch

Ettlingen. Das Gedächtnis zweier Nationen hat alles aufbewahrt. Das macht eine Befragung deutlich, bei der 84 sowjetische und deutsche Zeitzeugen davon berichten, wie sie den Zweiten Weltkrieg und insbesondere des­sen Ende erlebt und überlebt haben. Sie wur­den verschleppt und vergewaltigt. Sie wurden in Gefangenen- und Konzentrationslagern ge­schunden. Sie wurden noch wenige Stunden vor der Kapitulation schwer verwundet. Oder sie mußten sehen, wie kurz vor dem Sieg der beste Freund fiel.

Gesammelt hat diese Erinnerungen von 84 Frauen und Männern der Moskauer Germa­nist und Schriftsteller Pawel Fraenkel, dessen Bücher nicht nur in Rußland,, sondern auch in Deutschland bekannt sind. Diese Erinnerun­gen sind in dem Buch „Was im Gedächtnis bleibt“ festgehalten. Mit Unterstützung russi­scher Institute und Universitäten und mit Hilfe des Goethe-Institutes Moskau ist das Buch im Frühjahr 1995 zweisprachig erschie­nen. Erschütternde Erlebnisse, aber auch Freude, Trauer, Stolz oder Verzweiflung jun­ger Menschen beider Völker ergriffen jeden Leser.

Spontan entstand die Idee, zum 50. Jahres­tag des Kriegsendes 1995 eine Ausstellung mit gleichem Titel und Inhalt in Moskau zu ver­anstalten. Sie wurde im Mai im Leninski Pro­spekt 95 a in Anwesenheit von Vertretern aus Politik, Kultur, Kirche und dem Goethe-Insti­tut eröffnet: Sieben Einzelschicksale junger Menschen (fünf Russen, ein Jude aus Memel, ein Deutscher) wurden ausgewählt und auf großen Schautafeln mit Texten, Dokumenten, Grafiken und Bildern einprägsam dargestellt.

Der deutsche Beitrag zur Ausstellung in Moskau ist der Erlebnisbericht des Ettlinger Bürgersohns, Hans-Dieter Ruf, des Jüngsten der Familie Ruf, der am Marktplatz geboren und aufgewachsen ist und wie alle seine Schulkameraden 1943 eingezogen wurde. Dann Arbeitsdienst, Fallschirmtruppe, Front­einsatz in Italien und im Osten mehr verwun­det und – wieder eingesetzt zum Endkampf in Berlin und mit noch nicht 20 Jahren in russi­sche Gefangenschaft gekommen. Über fünf Jahre lebte und litt er danach in der So­wjetunion. Er lernte viele Lager kennen von Kursk über Moskau bis Nowosibirsk. Ein kleines Bild, das 1947 heimlich auf genommen wurde, erinnert an diese Zeit. Sie brachten Not, Hunger, Entbehrung und Heimweh. (Im Herbst 1946 kam die erste Post aus Ettlin­gen.) Ruf heute über diese Zeit: „Ich erkann­te, daß Überleben nur möglich ist, wenn ich russisch lerne. Aber wie?“ Es gab keine Wör­terbücher oder Grammatiken, nicht einmal Papier oder Bleistift. Auf Birkenrinde mit Holzkohle schrieb er die ersten kyrillischen Buchstaben. Danach Wörter, die er hörte: Molotok – der Hammer, Woda – das Wasser, Kuschatj – essen ….

Im Laufe der Monate war sein Wörterbuch – ein Stapel Birkenrinde – über einen Meter hoch. Jetzt konnte er schon mal mit Wachpo­sten oder Zivilisten „radebrechen“. Üben konnte er natürlich nur in der Freizeit nach zehn- bis zwölfstündiger täglicher Arbeit im Wald, im Bergbau, im Straßenbau oder auf Kolchosen.

„Es dauerte über ein Jahr, bis ich die erste eigene Grammatik zusammengestellt hatte. Danach aber ging es voran. Jetzt konnte ich mit Russen sprechen, konnte Menschen kennenlemen.“ Mit großer Hochachtung spricht er noch heute von russischen Ärztinnen, die nächtelang an den Betten schwerkranker Ge­fangener ausharrten. Nachdem die Russisch­kenntnisse immer besser wurden, setzte man den Kriegsgefangenen Ruf als Dolmetscher ein. Dadurch kam er auch an Bücher und machte die größte Entdeckung seiner Lei­denszeit: die russische Literatur. „Fortan las ich in jeder freien Minute Werke von Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew, Gogol und Tsche­chow“, berichtet er heute. Die Kraft, Tiefe und Schönheit dieser Sprache faszinierte ihn, und er begann, sie zu übersetzen. Dabei ver­suchte er den Klang und „die Melodie“ russi­scher Gedichte in gleichklingende deutsche Reime zu formen. Einige seiner Puschkin- Übersetzungen sandte die Lagerdolmetscherin 1949 nach Moskau, und nach zwei Monaten holte man ihn daraufhin in die Hauptstadt. In den letzten sechs Monaten seiner Gefangen­schaft übersetzte Ruf für den Verlag „Meschdunaroduaja Kniga“ russische Erzählungen und Gedichte für Lehrbücher im Deutschun­terricht in Schulen. Einige davon sind auch in Schulbüchern der ehemaligen DDR er­schienen.

Ende 1949 kehrte er nach Ettlingen zurück. 1962 besuchte er erstmalig Rußland wieder, im Auftrag der Ettlinger Elba-Werke. Später gründete er eigene Firmen, meist mit interna­tionalen Beziehungen und lernte viele fremde Länder und Völker kennen. Sein Verhältnis zu Rußland und seinen Menschen aber ist be­sonders eng. Er hat das große weite Land im­mer wieder besucht.

Zuletzt fuhr Hans-Dieter Ruf im August 1994 2000 Kilometer durch Sibirien. Dort auf dem riesigen Fluß Jenissei traf er den russi­schen Minister und die Leiterin des Goethe- Instituts Moskau, Keimel-Metz, die die Aus­stellung vorbereiteten. Nach vielen Stunden des Erzählens in den taghellen Nächten am Polarkreis waren sie überzeugt, daß das Schicksal dieses Ettlinger Bürgers der richti­ge deutsche Beitrag für die Moskauer Ausstel­lung wäre. Im Februar kam eine Delegation aus Moskau nach Ettlingen und filmte alles, was mit dem Leben Rufs zusammenhängt.

„Das Geburtshaus am Marktplatz, die Schulen, seine Firmen, das Schloß, das Rat­haus. Sie notierten alles, was interessant war, die Partnerschaft mit Gatschina, den Besuch von 40 Studenten aus Mogilew im Asamsaal und nahmen viele von mir übersetzte russi­sche Gedichte mit, aber auch Kriegsgefange­nenpost, ebenso Familienfotos“, berichtet Ruf. Auch eine von ihm herausgeschmuggelte Liste mit Namen und Daten von 291 verhungerten oder an Typhus verstorbenen Kameraden des Lagers Grodno wurde mitgenommen. – „Im Schuh versteckt hatte ich die Liste mitge­bracht und dann dem DRK-Suchdienst über­lassen.“

Und alles wurde zweisprachig auf großen Tafeln mit Bildern und Dokumenten in Mos­kau ausgestellt. Erhältlich ist auch ein Kata­log, in dem sieben Schicksalswege in Russisch und Deutsch mit vielen Bildern dargestellt sind. Im Herbst zieht die Ausstellung weiter. Sie soll in vielen Städten und Ländern gezeigt werden. Im Frühjahr 1996 in Mailand und in Amsterdam, im Sommer in Berlin und München. 

BNN, 8/9. Juli 1995 Martin Karg

IN GEFANGENSCHAFT (kleines Bild) entdeckte Hans-Dieter Ruf seine Liebe zu Rußland. An sein Schicksal erinnert aktuell in Moskau auch die Aufnahme mit Ludwig Erhart. Foto:pr
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